Ich lese in der Autobiographie “1000 Jahre Freud und Leid” von Ai Weiwei. Ein berührendes und faszinierendes Buch. Ai wuchs während der Kulturrevolution
in China mit seinem Vater in verschiedenen Arbeitslagern auf. Eine traumatisierende und schamvolle Erfahrung. Weil sein Vater ein berühmter Dichter war, kam seine ganze Familie auf die schwarze Liste und gehörte während fast 20 Jahren zum Abschaum der Gesellschaft.
Zur selben Zeit war als Kind auch Xi Jinping, der heutige Präsident von China, in einem dieser Lager inhaftiert. Ai schlug aber einen komplett anderen Weg ein als Xi. Ai ging mit 19 Jahren nach New York und liess sich dort 12 Jahre treiben. Er weigerte sich, etwas aus sich zu machen, ein Ziel zu verfolgen, wie das sonst alle Künstler in New York taten. So als wolle er das durchstrukturierte Leben des Lagers von sich abwaschen.
Auch später ist eines der Hauptmerkmale seiner Arbeit, dass er sich wie ein Blatt im Wind von Ort zu Ort treiben lässt und immer aus dem Hier und Jetzt heraus arbeitet. Als Studierende einen Lastwagen mit 500 illegal gefangenen Katzen, die für die chinesische Küche bestimmt waren, an einem Grenzübergang festhielten, berichtete Ai in seinem vielbeachteten Blog davon, nahm auch gleich 24 Katzen bei sich im Atelier auf und gab allen einen Namen.
2006 wurde er angefragt, bei der Dokumenta 12 in Kassel mitzumachen. Er hatte die “verrückte” Idee, als Kunstprojekt 1001 Chinesen nach Kassel einzufliegen. Menschen aus ganz China konnten sich für diese Reise bewerben. Weiwei konzipierte dafür einen Fragebogen mit 99 Fragen, wie beispielsweise “Was ist für Sie Kunst?”. Ein Reisbauer, der noch nie aus seinem Dorf herausgekommen war, bewarb sich für die Reise und beantwortete alle Fragen mit: “Ich weiss es nicht”.
Es ist sehr inspirierend zu lesen, wie Ai sich auf eine ganz eigene Art und Weise aus seiner schambehafteten Kindheit befreit und sich einen Platz, eine Nische sucht, wo er zu einer Lichtgestalt für ganz viele Menschen werden kann.