Normalerweise denken wir, dass unser Mitgefühl dazu da ist, dass sich jemand nachher besser fühlt, dass seine/ihre Schmerzen gelindert oder weggenommen werden. H. A. Almaas schreibt aber in seinem
Buch “Diamond Heart - Elements of the Real in Man” (1987), dass dies nur die oberste Ebene des Mitgefühls sei.
Die wirkliche Funktion von Mitgefühl ist nicht, Leiden zu verringern, sondern einen anderen Menschen auf dem Weg zu seiner Wahrheit zu begleiten. Diese Wahrheit kann aber schmerzhaft und furchterregend sein. Mitgefühl zu bekommen macht es einem dann überhaupt erst möglich, diesen Schmerz und diese Angst auszuhalten. Und das Mitgefühl macht es möglich, die Suche nach der Wahrheit weiterzuverfolgen. Die Wahrheit wird ganz zuletzt das Leiden auflösen, aber das ist nur ein Nebeneffekt und nicht das Ziel von Mitgefühl.
Eine tiefe Stufe des Mitgefühls kann deshalb darin bestehen, jemanden den Schmerz oder das Leiden gerade nicht wegzunehmen. Manchmal lernt man genau über diesen Schmerz eine essentielle Wahrheit über sich selbst.
Als die Frau von Cédric P. für eine Woche allein in die Ferien reist, tauchen bei ihm starke Gefühle von Verlassensein und Trauer auf, die sich mit Wut auf seine Frau abwechseln. Er ist überrascht von der Heftigkeit seiner Gefühle. In einer Therapiesitzung kommt er in Kontakt mit dem kleinen Kind, das er einmal war. Dieses Kind war sich nie sicher, ob die Mutter wieder zurückkommt wenn sie wegging, da sie in dieser Zeit an Depressionen und Suizidgedanken litt. Bei ihm als Kind führte das Alleingelassen werden damals zu Todesängsten, die sich dann in Wut verwandeln konnten.
Diese Wahrheit über sich zu sehen, war für Cédric P. eine sehr wichtige und befreiende Erfahrung, die er nicht missen möchte.